Die Wirkung von Art. 357 OR auf den Einzelarbeitsvertrag
In diesem Beitrag legen wir dar, welche Bedeutung Art. 357 OR* im kollektiven Arbeitsrecht hat. Der GAV lässt in der Regel individuellen Lösungen zu. Es ist jedoch wichtig, den GAV genau zu studieren und die individuelle Lösung korrekt zu formulieren, um nicht mit Art. 357 Abs. 2 OR in Konflikt zu geraten.
Herr Meier betreibt eine Schreinerei im Kanton Zürich und ist folglich dem GAV Schreinergewerbe unterstellt. Einer seiner besten Mitarbeiter möchte in den kommenden Jahren Wohneigentum erwerben. Aus diesem Grund benötigt er einen höheren Lohn und ist bereit, mehr zu arbeiten. Der Betrieb möchte seinem Arbeitnehmenden Hand bieten und sie vereinbaren in einem neuen Arbeitsvertrag folgendes:
Es wird ein monatlicher Lohn von CHF 6’500.00 vereinbart. Die wöchentliche Arbeitszeit wird auf 45 Stunden pro Woche erhöht und die Mehrarbeit ist mit dem hohen Lohn abgegolten.
Abweichung vom Gesamtarbeitsvertrag
Diese vertragliche Vereinbarung weicht vom GAV Wortlaut ab, weil nach Art. 7 GAV die wöchentlichen Arbeitszeit 41.5h beträgt. Weiter gelten gemäss Art. 13 Abs. 1 GAV unter anderem die Mehrstunden des Jahresarbeitszeitsaldos als Überstundenarbeit. Diese Mehrstunden sind, wenn sie nicht mit Freizeit kompensiert werden, mit einem Zuschlag von 25% auf den Normallohn auszubezahlen.
Immer wenn vom GAV abgewichen wird, ist Art. 357 Abs. 2 OR zu prüfen. Gemäss Art. 357 Abs. 2 OR sind Abreden zwischen beteiligten Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die gegen die unabdingbaren Bestimmungen verstossen, nichtig und werden durch die Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrages ersetzt.
Aufgrund der Regelung des Einzelarbeitsvertrages werden nach Art. 13 GAV pro Woche 3.5 Überstunden (45-41.5) erarbeitet. Weiter verzichtete der Arbeitnehmende auf eine Auszahlung dieser Überstunden, da sie bereits im Lohn enthalten sind. Dieser Verzicht ist zu Ungunsten des Arbeitnehmenden. Folglich ist die vertragliche Vereinbarung im Sinne von Art. 357 OR nichtig und ist so zu betrachten, als hätte sie nie statt gefunden.
Somit schuldet der Betrieb dem Arbeitnehmenden noch die Auszahlung oder die Kompensation von 3.5 Überstunden pro Woche. Dies entspricht in einem Jahr abzüglich Ferien und Feiertage ca. 161 Stunden (46 Wochen an 3.5 Stunden) bzw. CHF 7’858.30 (161 Stunden*6’500/180.33 Stunden [1]*1.0833*1.25).
Hätte der Betrieb im Arbeitsvertrag unmissverständlich ausformuliert, dass die Lohnerhöhung von monatlich CHF 800.00 effektiv für die Erhöhung der Arbeitszeit von 3.5 Stunden sei, so hätte dargelegt werden können, dass die Abweichung vom GAV im Sine von Art. 357 OR zu Gunsten des Arbeitnehmenden erfolgte (12 mal CHF 800.00 > CHF 7’858.30).
Ferner ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass im Sinne von Art. 17 Abs. 3 lit. b GAV der GAV bereits eine ähnliche Regelung für Mitarbeiter des mittleren Kaders vorgesehen hat. Gemäss GAV kann den Arbeitnehmenden des mittleren Kaders, welche mehr als 20 Prozent über dem Mindestlohn verdienen, im Einzelarbeitsvertrag die Arbeitszeiten so flexibilisiert werden, dass 10 % der Mehrstunden nicht kompensiert, ausbezahlt oder mit Zuschlägen belegt werden müssen.
Fazit
Abschliessend lässt sich festhalten, dass ein GAV in der Regel individuellen Lösungen zulässt. Es ist jedoch wichtig einerseits den GAV genau zu studieren und andererseits die individuelle Lösung korrekt zu formulieren, um nicht mit Art. 357 Abs. 2 OR in Konflikt zu geraten.
* Art. 357 OR
1 Die Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrages über Abschluss, Inhalt und Beendigung der einzelnen Arbeitsverhältnisse gelten während der Dauer des Vertrages unmittelbar für die beteiligten Arbeitgeber und Arbeitnehmer und können nicht wegbedungen werden, sofern der Gesamtarbeitsvertrag nichts anderes bestimmt.
2 Abreden zwischen beteiligten Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die gegen die unabdingbaren Bestimmungen verstossen, sind nichtig und werden durch die Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrages ersetzt; jedoch können abweichende Abreden zugunsten der Arbeitnehmer getroffen werden.
[1] Gemäss Art. 7 Abs. 2 GAV beträgt die Bruttojahresarbeitszeit 2’164h. Dies entspricht gemäss Art. 7 Abs. 2 GAV einer durchschnittlichen monatlichen Arbeitszeit von 180.33h sowie einer durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit von 41.5h.